TAUBEN FLIEGEN AUF
(Roman, Jung und Jung Verlag, Salzburg. Juli 2010. www.jungundjung.at)

 

Als wir nun endlich mit unserem amerikanischen Wagen einfahren, einem tiefbraunen Chevrolet, schokoladefarben, könnte man sagen, brennt die Sonne unbarmherzig auf die Kleinstadt, hat die Sonne die Schatten der Häuser und Bäume beinahe restlos aufgefressen, zur Mittagszeit also fahren wir ein, recken unsere Hälse, um zu sehen, ob alles noch da ist, ob alles noch so ist wie im letzen Sommer und all die Jahre zuvor. 
Wir fahren ein, gleiten durch die mit majestätischen Pappeln gesäumte Strasse, die Allee, welche die Kleinstadt vorankündigt, und ich habe es nie jemandem gesagt, dass mich diese zum Himmel strebenden Bäume in einen schwindelerregenden Zustand versetzen, ein Zustand, der mich mit Matteo kurzschliesst (der Taumel, dem ich verfalle, als Matteo und ich uns endlos im Kreis drehen, auf der schönsten Lichtung des Dorfwaldes, innig, seine Stirn auf meiner, später dann Matteos Zunge, die eigenartig kühl ist, seine schwarzen Körperhaare, die sich schüchtern zeigen, sich so an seine Haut schmiegen, als wären sie ihrer hellen Schönheit völlig ergeben).
Als wir an den Pappeln vorbeigleiten, mir dieses Flirren den Verstand raubt, unser schokoladefarbenes Schiff majestätisch und geräuschlos von einem Baum zum nächsten gleitet, dazwischen die Luft der Ebene, die sichtbar wird, ich kann sie sehen, die Luft, die jetzt stillsteht, weil die Sonne unbarmherzig ist, da sagt mein Vater zur Klimaanlage, immer noch alles genau gleich, mit kleiner Stimme sagt er, hat sich nichts verändert, gar nichts.
Ich frage mich, ob sich mein Vater eine Truppe von professionellen Gärtnern wünscht, die zumindest die Äste zurechtstutzen – dem Wildwuchs Zivilisation entgegensetzen! – oder die mit effizienten Maschinen die Kleinstadt vorankündigenden Pappeln fällen, ein für allemal! (und wir würden auf einem dieser Strünke sitzen, mit unseren Blicken die Ebene, die sich mit Mittagshitze vollgesaugt hat, beherrschen, und mein Vater, der sogar einen Strunk besteigen müsste, sich einmal um die eigene Achse drehen würde, um dann mit der bitteren Stimme eines Menschen, der spät, aber besser spät als nie! Recht bekommt, zu sagen: endlich sind diese verdammten, staubigen Bäume weg).
Ich habe nie jemandem gesagt, was mir diese Bäume bedeuten, die Luft zwischen den Bäumen, die man genau sehen kann, und nirgends sind die Bäume so majestätisch, so verheissungsvoll wie hier, wo die Ebene ihnen Platz lässt, und ich wünsche mir auch diesmal, stehenzubleiben, mich an einen dieser Stämme zu lehnen, meinen Blick zu heben, mich von den raschen, kleinen Bewegungen der Blätter verführen zu lassen, und ich bitte meinen Vater auch diesmal nicht, anzuhalten, weil ich auf die Frage "warum" keine Antwort wüsste, weil ich Vieles erzählen müsste, ganz bestimmt aber von Matteo, um zu erklären, warum ich ausgerechnet hier anhalten will, so kurz vor dem Ziel.
Unser Wagen, wie von einer geheimen Kraft gezogen, fast immun gegen die Unebenheiten der Strasse, fährt also weiter und bevor wir endgültig ankommen, haben wir noch ein weiteres Mal ein "hat sich nichts verändert" zu passieren, muss die Zivilisation noch einen Rückschlag, heisst, einen Stillstand hinnehmen, und wir Kinder drücken linkerhand unsere Gesichter gegen die Scheibe, die erstaunlich kühl ist, sehen mit ungläubigen Augen Menschen, die in einem Berg von Müll leben, hat sich nichts verändert, sagt mein Vater, Hütten aus Wellblech, Gummi, zerzauste Kinder, die zwischen Autowracks und Haushaltmüll spielen, als gäbe es nichts Normaleres, was ist mit den Scherben, will ich fragen, mit der Nacht, die einbricht, wenn die Schatten sich bewegen, wenn all die Dinge, die in einem heillosen Durcheinander daliegen, lebendig werden? Und ich vergesse in einem winzigen Augenblick die Pappeln, Matteo, das Flirren, den Chevrolet, und die schwarze Nacht der Ebene umhüllt mich mit ihrer ganzen zerstörerischen Kraft, und ich höre sie nicht, die Lieder der Zigeuner, die vielbeschworenen, bewunderten, ich sehe nur die gefrässigen Schatten im Dunkeln, von keiner Strassenlaterne vertrieben.
Und mein Vater schielt aus dem Fenster, schüttelt den Kopf, hustet seinen trockenen Husten, er fährt so langsam, dass man meinen könnte, er werde unseren Wagen in wenigen Augenblicken zum Stillstand bringen, schaut euch das an, sagt er und klopft mit dem Zeigfinger gegen das Seitenfenster (ich erinnere mich an ein Feuer, dessen Rauch sich verirrt, sich nicht zurechtfindet) ich, die die schmutzstarren Gesichter aufnimmt, die scharfen Blicke, die Lumpen, Fetzen, das über den Müllbergen zitternde Licht, ich verlängere meinen Blick, als müsste ich das alles verstehen, diese Bilder von Menschen, die keine Matratzen haben, Betten schon gar nicht, sich deswegen nachts vielleicht in die Erde eingraben, in die tiefschwarze Ebene, die jetzt, im Sommer, von Sonnenblumen nur so strotzt, sich im Winter dann so preisgibt, dass man sich ihrer erbarmt, Erde, nichts als Erde, die im Winter von einem zentnerschweren Himmel erdrückt wird, die, wenn der Himmel sie in Ruhe lässt, zu einem Meer wird, windstill.
Ich habe es nie jemandem gesagt, aber ich liebe diese Ebene, die sich zu einem trostlosen Strich verdünnt, nichts, das sie einem schenkt, vollkommen allein in dieser Ebene, von der du nichts wollen kannst, auf die du dich höchstens hinlegen kannst, mit ausgebreiteten Armen, und das ist der Schutz, den sie dir gewährt.
Wenn ich gesagt hätte, dass ich Matteo liebe (ein Sizilianer, der ein paar Wochen vor den Sommerferien in unsere Klasse hineingeplatzt ist, ciao, sono Matteo de Rosa! und sofort bei allen, ausser beim Lehrer, beliebt war) dann hätten mich womöglich die meisten verstanden, aber wie sagt man, dass man eine Ebene liebt, die Pappeln, staubig, gleichgültig, stolz, und die Luft dazwischen? im Sommer, wenn die Ebene um ein Stockwerk gewachsen ist, Sonnenblumen-, Mais- und Weizenfelder, wo du nur hinblickst, und man erzählt, dass immer wieder Menschen in den endlosen Feldern verschwinden, wenn du nicht aufpasst, packt dich die Ebene und frisst dich auf, sagt man, und ich glaube nicht daran, ich glaube, dass die Ebene ein Meer ist, mit eigenen Gesetzen.
Diese armen Dinger, sagt meine Mutter, als würden wir fernsehen und statt dass wir den Sender wechseln, fahren wir vorbei, fahren wir weiter, in unserer Kühlbox, die eine Stange Geld gekostet hat, uns so breit macht, als würde die Strasse uns gehören, und mein Vater dreht das Radio an, damit die Musik das Niedrige, Fatale in einen tänzerischen Takt verzaubert, den Klumpfuss der Wirklichkeit augenblicklich heilt:
komm hierhin
geh nicht dorthin
komm hierhin, mein Herzchen
und gib mir ein Küsschen...
Mit einem Geräusch, das nicht der Rede wert ist, fahren wir über die Gleise, am schiefen, rostigen Schild vorbei, das seit Ewigkeiten den Namen der Kleinstadt tragen muss, wir sind da, sagt meine Schwester Nomi, zeigt zum Friedhof, der Friedhof, in dem eine auffallende Ungerechtigkeit herrscht, Gräber, um die sich niemand kümmert, einfache, von Unkraut überwucherte, kaum mehr erkennbare Holzkreuze, Jahreszahlen, Buchstaben, die fast nicht mehr zu entziffern sind, wir sind da, sagt Nomi, und ihr Blick löst sich auf, formt sich augenblicklich zur Angst, irgendwann in den nächsten Tagen den Friedhof besuchen zu müssen, hilflos an Gräbern zu stehen, sich für die Tränen der Eltern irgendwie zu schämen, auch weinen zu wollen, sich vorzustellen, dass da unten im Sarg der Grossvater väterlicherseits liegt, die Grossmutter mütterlicherseits, die wir, Nomi und ich, nie kennengelernt haben, Grossonkel und Grosstanten, die Hände, die einem in solchen Momenten immer im Weg sind, das Wetter, das in solchen Momenten immer unpassend ist, würde man weinen, wenigstens wüsste, wohin mit den Händen, Gladiolen und zarte Rosen neben Gräbern, die mit Steinplatten bedeckt sind, die Toten, deren Namen in Stein eingraviert sind, leserlich bleiben für die Nachwelt, die Steinplatten, die ich nicht mag, weil sie die Erde der Ebene erdrücken, die darunterliegenden Seelen am Fortfliegen hindern.
Unsere Familie mütterlicherseits und väterlicherseits, die unter Steinplatten begraben liegt, schlimmstenfalls fehlen die Blumen, die gelben und rosaroten Rosen, die Gladiolen, aber die Gräber, mit Steinplatten überdeckt, verwahrlosen nicht, auch wenn sie niemand besucht, auch nicht an Allerheiligen, nicht einmal an Allerheiligen, sagt meine Mutter, wenn irgendeine Cousine sie anruft, ihr mit gepresster Stimme mitteilt, dass ausser ihr niemand auf dem Friedhof war, um ein Lämpchen für die Verstorbenen anzuzünden, wenigstens verwahrlosen die Gräber nicht, sagt meine Mutter dann, und in diesem Satz steckt die tiefe Trauer eines Lebens, das sich nicht einmal um die Toten kümmern kann, weil sie zu weit weg sind, um ihnen wenigstens einmal im Jahr, an Allerheiligen, Blumen hinzustellen.
Weil sich der Tod selten ankündigt, sind wir also fast nie da, wenn jemand unserer Familie in der Vojvodina stirbt, und wenn uns Tante Manci oder Onkel Móric anrufen, weil sie die Einzigen sind, die ein Telefon haben, um uns zu sagen, dass es leider ein Tag der schlechten Nachricht ist, dann wird es merkwürdig still in unserem Wohnzimmer, möglicherweise gäbe es irgendwas über den Tod zu erzählen, wenn wir da wären, wo all unsere Verwandten leben, zumindest würden wir zuhören, was man sich über den Verstorbenen erzählt, und wir wären sicher berührt, wenn Mamika ein Lied singt, die mit ihrer Stimme den verborgensten Winkel jeder Seele erreicht, aber weil wir nicht da sind, wo die Menschen drei Tage lang Abschied nehmen von einem Verstorbenen, bevor sie seine sterblichen Überreste, wie man sagt, der Erde überlassen, weil wir nur das Telefon haben, eine entfernte Stimme, die bezeugt, dass etwas Unwiderrufliches geschehen ist, bewegen wir uns an diesem Tag der schlechten Nachricht wie Geister, wir vermeiden es sogar, uns mit Blicken zu berühren, und ich erinnere mich, dass Vater die gelben Chrysanthemen, die Mutter auf den Wohnzimmertisch gestellt hat, mit einem heftigen Schwung in den Mülleimer wirft, im Oktober 1979, als wir die Nachricht bekommen haben, dass Vaters geliebte Grosstante gestorben ist. Keine Totenblumen, sagt Vater mit wütendem Hinterkopf und der Fernbedienung in der Hand, ich und Nomi, die die Chrysanthemen seither die verbotenen Blumen nennen, weil wir sie nicht mehr auf den Tisch stellen dürfen (und wenn wir dann den Friedhof in unserer Heimat aufsuchen, die Gräber unserer Verstorbenen mit Blumen schmücken, sicher nie mit Chrysanthemen! auch wenn es Herbst ist, dann sind wir zu spät gekommen, denke ich, dann sind wir ein zweites Mal allein mit unserer Trauer).

Und wir ahnten damals nicht, dass in wenigen Jahren die Grabsteine umgestossen, die Granitplatten zerpickelt, die Blumen geköpft werden würden, weil es im Krieg eben nicht reicht, die Lebenden zu töten, und hätten wir es geahnt, hätten wir vermutlich am Grab unserer Verstorbenen die Köpfe gesenkt, darum gebeten, dass unser leiser Singsang sich zu einem magischen Schutz verdichtet, damit die Toten in ihrer ewigen Ruhe, wie man sagt, nicht gestört würden, aber wir hätten auch darum bitten können, dass die Regenwürmer, die Engerlinge, die Springschwänze, die Tausendfüssler und Käfer aller Art nicht durch die plötzliche Lichtveränderung wild durcheinander krabbeln und kriechen, um dann, nach dieser Störung, endlich wieder ins schützende Dunkel zu flüchten.


Deutscher Buchpreis 2010
Schweizer Buchpreis 2010 


Tauben fliegen auf

Roman
315 Seiten, gebunden

Salzburg 2010
Jung und Jung Verlag
ISBN 978-3-902497-78-9
10. Auflage 
www.jungundjung.at