«Schildkrötensoldat» am Theater Basel

Monolog eines Verstummten – verspielt

 

NZZ vom 19.5.2014, von Alfred Schlienger

 

Von einer mit Spannung erwarteten Uraufführung wäre hier zu berichten. Die Autorin sitzt auch im Parkett. Aber sie wird am Schluss nicht auf die Bühne gebeten. Was ist da passiert? – Der Originaltext zu «Schildkrötensoldat» stammt von Melinda Nadj Abonji, in dieser Saison als Hausautorin am Theater Basel engagiert. Es ist der polyfone innere Monolog eines Verstummten, ein ungemein bildstarkes Stück Prosa, das wie ein grosses, rhythmisches Gedicht dahinfliesst, stockt, einem den Atem verschlägt, weiterfliesst und dabei die Innenwelt eines Geschundenen offenbart, der sich – obwohl er immer wieder fällt und gefällt wird – etwas berührend Aufrechtes bewahrt. Schritt für Schritt tauchen wir über die so präzise wie poetische Sprache ein in die Welt dieses Zoltán Kertész, Abkömmling einer balkanischen Zigeunerfamilie, und erleben die Zurichtungen durch die familiären Erwartungen, den brutalen Lehrmeister, vor allem aber durch den absurden militärischen Gehorsamsdrill.

Ablenkungsmanöver

Zwei Zufluchtsorte hat dieser wunderliche Zoli in seiner wenig zarten Welt, den Garten mit prächtigen Blumen, um den er sich liebevoll kümmert, und – die Sprache. In beiden findet der Stotterer, Wort- und Schönheitssammler Neugier, Trost und Unterschlupf. Die Bühnenfassung von Regisseur Patrick Gusset dampft als Erstes den wunderbaren Text um mehr als die Hälfte ein, und nach knappen 75 Minuten ist der Abend auch schon vorbei. Der Rest der vielstimmigen Innenwelt wird szenisch und dialogisch nach aussen gestülpt und auf mehr als ein halbes Dutzend Figuren verteilt, als traute man der Imaginationskraft der Sprache – und des Publikums – nicht wirklich. Warum Zoli (Joanna Kapsch) eine Frau sein muss und die Mutter ein tuntig verkleideter Mann (David Berger, auch als Bäckermeister, Arzt und Leutnant), wirkt wenig motiviert und lenkt nur vom Wesentlichen ab. Gleiches gilt für den disparaten Sound-Mix (Musik Jannik Giger, Lukas Huber), der das Bühnengeschehen begleitet. Überzeugend hingegen das Bühnenbild von Chasper Bertschinger, das mit seinen stilisierten Scherenschnittblumen einen variablen Garten samt seiner Zerstörung evoziert.

Es gibt eine Szene, bei der die Regie auf den ganzen veräusserlichenden Bebilderungswahn verzichtet – es ist die beste des Abends und sein wild pochendes Herzstück. Zoli berichtet völlig schmucklos von einem militärischen Gewaltsmarsch, bei dem sein Freund Jenö (Andreas Bittl) nicht mithalten konnte, auf Befehl der Vorgesetzten mit Riemen an Zolis Rucksack gebunden und so weitergeschleppt wurde, bis er schliesslich tot zusammenbrach. Damit spielt die Autorin nicht etwa auf ein grausames Geschehen im wilden Balkan an, sondern auf den realen Fall des Rekruten Pierre-Alain Monnet, der genau so im schweizerischen Militär in den Tod gehetzt wurde, wobei die Vorgesetzten vor Militärgericht mit lächerlich tiefen bedingten Strafen davonkamen. In ihrem Einleitungstext zum «Schildkrötensoldaten» verweist Melinda Nadj Abonji auf diesen Zusammenhang und widmet ihr Stück ausdrücklich drei jungen Männern, die durch derartige Militärwillkür zu Tode kamen. Dass dieser konkrete gesellschaftliche Konnex im Programmheft unterschlagen wird, grenzt an Zensur.

Krieg und Frieden

Die Autorin schreibt eben nicht einfach «über den Balkan und den Krieg», wie es im Programmheft fälschlicherweise heisst, sondern ganz offensichtlich auch über die Schweiz und ihr Militär in Friedenszeiten. Das Schlüsselwort des Stücks heisst Verantwortung; der Einzige, der sich verantwortlich fühlt, ist Zoli. Er bekennt sich schuldig, sich dem militärischen Wahnsinn nicht verweigert zu haben. Wenn das Stück eine Botschaft hat, dann diese. Der Abend selber spielt darüber hinweg. – Spricht man nach der Premiere mit der Autorin, spürt man ihre Enttäuschung über das mangelnde Vertrauen in ihren Text. Sie distanziert sich von der veräusserlichenden Bühnenfassung. Melinda Nadj Abonji, mit «Tauben fliegen auf» doppelte Preisträgerin des deutschen und des schweizerischen Buchpreises, ist keine Newcomerin. Und sie ist auch nicht die unberührbare Literatin im Elfenbeinturm, die nicht gewohnt wäre, Texte bühnenreif zu machen. Seit Jahren tritt sie als Performerin auf; «Schildkrötensoldat» ist ihr drittes Stück.

Ihr Unbehagen ist ein grundsätzliches. In den meisten Bühnenproduktionen der letzten Jahre fehlt ihr, so betont sie, «die notwendige Hingabe an den Text». Literatur erscheint ihr «geradezu unvereinbar mit dem Theater zu sein», das sie als Ort der Überbelichtung empfindet, der ohne Tricks und Effekte nicht mehr auskomme. Im konkreten Fall war für sie die Perspektive aus dem einen Kopf von Zoli bedeutungstragend. Das werde nun durch die gegenstandsverliebte Dialogfassung banalisiert. Wer die verschiedenen Fassungen, die dieses Stück durchlaufen hat, kennt, kann diese Haltung bestens nachvollziehen. Melinda Nadj Abonji arbeitet seit 2011 an diesem Text und ist bereits wieder daran, ihn weiterzuentwickeln. Die wirkliche Uraufführung steht ihm also noch bevor.