Tages Anzeiger, 23.11.14. Von Christoph Merki

 

Die Stimme vom Galgenplatz auf CD

Am Ende rumort der Kontrabass, als wolle er von einer Welt berichten, in der etwas ganz schrecklich schiefgelaufen ist. Und das ist es: Melinda Nadj Abonji und Balts Nill rufen uns in «Verhören» die Hexenprozesse in Erinnerung. Ihr Hörspiel, das sie in dieser Woche am Festival Unerhört in Zürich vorstellen, basiert auf alten Prozessakten, die sich erhalten haben in Avers. Es waren mindestens dreizehn Hexen, die dort in den Jahren um 1650 hingerichtet wurden – an einer Lichtung namens Galgaboda. Eine von ihnen war Trina Rüdi.

Blick ins Innerste

Das Hörspiel zitiert in 18 Text- und Musikstücken aus den Protokollen. Zu Beginn des Albums hören wir die Stimmen des «von Gott verordneten Landweibels» oder des «Herrn Richter», zusammengekommen zum Gericht, um «miteinander das Böse auszurotten». Doch es kommt in «Verhören» nicht nur die Obrigkeit zu Wort: In einem fiktiven Text schauen Abonji und Nill gleichsam ins Innerste der Seele von Trina Rüdi. So denken sie – paradox gesprochen – die Prozesse von Avers weiter ins Reale. Denn die überlieferten Dokumente erzählen die Geschichte offensichtlich nur als Zerrbild aus Sicht der Obrigkeit.

Mit ihrer Sprech- und Gesangsstimme tritt die bekannte Autorin Abonji als Trina Rüdi auf und gibt dem Opfer so eine Stimme. Über die meisten Angeklagten bei den Averser Hexenprozessen ist fast nichts bekannt. Die Protokolle in «Verhören» berichten auch von einem Geständnis nach der Folter: «Am Morgen früh sagt sie, es sei wahr.» Doch daneben entwickelt das fiktive Ich der Trina Rüdi ein anderes Bewusstsein. Rüdi stellt Fragen: Wenn sie ihr Haar aus den zu Schnecken geformten Zöpfen herauslöse, «weil es angenehm ist, das warme Haar auf dem Rücken zu fühlen», sei das denn wirklich sündhaft und nicht vielmehr ein Stück Natur, ja gar von Gott so gewünscht?

Leise Stimme, ohne Empörung

Von einer Vergewaltigung von Trina Rüdi ist im Hörspiel ebenso die Rede. Ist die Frau schuld, weil sie verführte? Die «Hexe» bei Abonji und Nill verteidigt sich. Fragen beim Verhör spielt sie zurück, gibt ihre Peiniger der Lächerlichkeit preis: «Ich hätte ihn in meiner Gewalt gehabt. Womit denn? Mit meinen Zöpfen?» So erhält Trina Rüdi einen, so Balts Nill, «Gegentext» zu den Protokollen. Die «Hexe» entlastet sich und belastet ihre Richter, und sie denkt dabei auch schon mal selbstbewusst wie eine Frau aus dem 21. Jahrhundert.

Und doch: Die Autoren dieser fiktiven Hexe wissen nur zu genau, dass sich alles anders zugetragen hat, dass alles schrecklich endete. Trina Rüdi spricht – via Abonji – die ganze Zeit sehr leise und ohne jede Empörung. Selbst im Hörspiel bleibt die Macht der Trina Rüdi eine gebrochene. Und auch wenn Abonji und Nill ihre Hauptfigur mit ihrer Einbildungskraft nicht nur als namenloses Opfer zeichnen, sondern als Subjekt aufbauen: Dem Gegentext sind Grenzen gesetzt. Am Ende ist Geschichte eben nur neu deutbar, und was passiert ist, ist passiert: Noch in ihren spöttischen Bemerkungen wirkt Trina Rüdi hier so, als wüsste sie, dass sie im Grunde ihr eigenes Requiem verliest.

Eine pietätvolle Musik

Vor diesem Hintergrund ist auch die Musik spärlich. Jedenfalls viel spärlicher, als man es vermuten würde bei Abonji und Nill, die beide nicht nur Autoren sind, sondern auch Musiker (Nill war Gründungsmitglied von Stiller Has). Meist sind da nur knappe Ukulele-Töne und etwas Perkussion. Die Pietät vor dem Stoff verbietet die grossen musikalischen Gesten. Nur ganz zum Schluss, da verliert die Musik ihr Zaghaftes. Als solle doch noch etwas zurechtgerückt werden. Der Bass rumort und empört sich. Er sagt, was Trina Rüdi nie sagte.

Melinda Nadj Abonji und Balts Nill: Verhören (Intakt/Harmonia Mundi); Auftritt am Festival Unerhört: Samstag, 29. 11., Theater Neumarkt, Zürich.