Laudatio von Martin Ebel anlässlich des Schweizer Buchpreises 2010 für "Tauben fliegen auf"


"Tauben fliegen auf" von Melinda Nadj Abonji ist die autobiographisch gefärbte Geschichte einer Integration, die vordergründig glücklich und erfolgreich verläuft. Der Roman zeigt den Hinter- und Untergrund zu diesem Vordergrund. Die Familie der Ich-Erzählerin Ildiko ist aus der serbischen Vojvodina, wo sie der ungarischen Minderheit angehörte, in die Schweiz gekommen und passt sich dort vorbildlich an: Die Eltern führen erst eine Wäscherei, dann ein Café in der Nähe Zürichs und werden schliesslich sogar eingebürgert. An der Figur Ildikos zeigt die Autorin die Kehrseite des Erfolgs: Die Entfremdung von den Verwandten in der alten Heimat, denen man bei regelmässigen Besuchen die jeweils grösseren Autos vorführt; tiefe Risse in der ausgereisten Familie selbst, in der die neue Umgebung mit neuen Regeln und Reizen die alten, nicht mehr haltbaren Strukturen herausfordert, und schliesslich einen starken Selbstverleugnungsdruck. Die junge Frau rebelliert: Sie will nicht länger die nette Serviertochter sein, und sie glaubt nicht mehr an das Mantra der Eltern, in der Schweiz werde jeder akzeptiert, wenn nur die Leistung stimme.

Melinda Nadj Abonjis zweiter Roman ist so leicht, wie er ernst ist. Es gelingt der Autorin, all die Klischees zu umschiffen, die eine Integrations- wie eine Rebellionsgeschichte nahelegen. Sie schwelgt nicht in sliwowitzgetränkter Balkan-Fröhlichkeit und verfällt auch nicht billigen Spiesser-Bashing. Behutsam und genau notiert sie, was der Wechsel von Gesellschaft, Kultur, Sprache und Milieu in einer jungen Frau, in einer Familie anrichten kann. Sie tut das mit psychologischem Scharfblick, mit heissem Herz und kühlem Kopf, in einer beschwingten Sprache, die auf jeder Seite spüren lässt, dass die Autorin Musikerin ist. Ihre Poetik hat sie, so glaube ich, in einer Bemerkung über Handgriffe beim Kaffeeservieren versteckt: elegant beiläufig sollen die Bewegungen sein. Dieser Poetik ist sie gefolgt. Die Schweizer Literatur sieht sich von dieser Neuschweizerin reich beschenkt.