C. F. Ramuz, der Dichter unsrer französischen Schweiz, kürzlich verstorben, steckt bereits (...) in unserem vaterländischen Knopfloch...

So notierte Max Frisch im "Tagebuch 1946 – 1949", damals, als er unmöglich ahnen konnte, dass sein Name nach seinem Tod perfekt ins Knopfloch eingepasst würde, das zwar nicht mehr vaterländisch genannt werden kann, aber in der Funktion als Ewige Zierde immer noch dasselbe leistet, nämlich die Mumifizierung eines Autors, seine Verklärung zum zeitlosen Exempel. Frisch als Massstab für politisches Engagement: Wie leicht ist es, heutige Autoren, Autorinnen durchs vorgestanzte Knopfloch fallen zu lassen, und es gibt eine Literaturkritik, die dieses Enthauptungsspiel mit Vorsatz betreibt, der Gegenwartsliteratur vorhält, sie sei apolitisch, auf sich selbst bezogen etc. etc. Tatsächlich, Frisch war einmalig politisch, auf seine Art eben, und, ganz im Gegensatz zu seiner Prosa, waren seine Essays, Reden, Tagebucheinträge und Briefe eine Entdeckung für mich. Präzise und fleissig hat Frisch politische Begriffe abgeklopft, Nation, Vaterland, Armee, Neutralität, Überfremdung, Widerstand, und er hat sie in die Zukunft entlassen, indem er sie in seiner Gegenwart und in der unmittelbaren Vergangenheit verankert hat. Was fällt mir zu Frischs Feststellungen ein, die er Ende der 50er Jahre formuliert hat? Ist die Schweiz heute noch rückwärts gewandt, passiv, hat Angst vor der lebendigen Tat oder hat sie mittlerweile (wieder) eine Idee von sich selbst? Und ich kann nur in Vermutungen antworten, selbstverständlich. Frisch würde den permanenten Wahlkampf, in dem wir leben, als korrumpiert tätig bezeichnen und die Neuen Aufrechten entlarven, die mit alttestamentarischem Gestus die Schweiz und die Demokratie beschwören und dabei deren Grundwerte aushöhlen. Gemünzt auf einen Rezensenten bemerkte Frisch in seinem ersten Tagebuch: "(...) man schneidet eine Kartoffel zurecht, bis sie wie eine Birne aussieht, dann beisst man hinein und empört sich vor aller Öffentlichkeit, dass es nicht nach Birne schmeckt, ganz und gar nicht!" Wie schön trifft dieser Satz auch auf die heutigen rechtspopulistischen Medien zu und ihre verquere Empörungskultur. Frisch? Meine Lektüre, wenn ich analysieren will, wie sich die Schweiz gewandelt hat oder eben nicht, und ich stelle ernüchtert fest, dass eine straff organisierte, Ressentiments schürende Truppe im international verflochtenen Kleinstaat den Ton angibt - so tut, als täte sie etwas - und rückwärts in die Zukunft rennt.

Es ist immer noch an der Zeit, wirkliche, stärkende Visionen zu entwickeln.

 

veröffentlicht in: Tages-Anzeiger, März 2011